″Yes so we are flowers all″ – (Re)-Reading James Joyce,“Ulysses“ 2020

Die James Joyce-Passage und ein Schaufenster in Feldkirch mit literarischen Interventionen zu gestalten, lautet die spannende und ehrenvolle Aufgabe von Literatur Vorarlberg, die mir ab September zuteil wird, Christian Futscher und Sarah Rinderer werden bis Juni 2021 anschließen. Das mir gestellte Ausgangsthema sind die „Cats of Copenhagen“, jene vielschichtige Kindergeschichte im satirischen Fabelstil, die James Joyce 1936 in einem Brief an seinen Enkel Stephen schrieb, um sich dafür zu entschuldigen, dass er ihm keine „candy-filled cats“ aus Kopenhagen mitbringen kann. Seit 2012 liegt der knappe dichte Text in einer Reihe von bibliophilen und aufwendig illustrierten Bänden auf Englisch und in mehreren weiteren Sprachen vor, auf Deutsch erschienen „Die Katzen von Kopenhagen“ 2013 im Carl Hanser Verlag, mit Illustrationen von Wolf Erlbruch und übersetzt von Harry Rowohlt.1 Mit meiner Intervention soll somit vor allem ein jüngeres Publikum angesprochen werden und aus dem begleitenden Workshop, der großteils aus den „Cats of Copenhagen“ entwickelte Schreibimpulse beinhaltet, wird das Schaufenster gestaltet. In der James Joyce-Passage möchte ich James Joyce würdigen. Für mich ist das nicht der Ort, um mich mit eigenen Texten auszubreiten, sondern allenfalls mit meiner Art, James Joyce zu präsentieren. Dies setzt für mich auch eine möglichst gute Kenntnis seines Werks voraus und somit war das Projekt ein willkommener Anlass, früher mal Gelesenes in Erinnerung zu rufen und diesbezügliche Lücken zu füllen. Die größte: der „Ulysses“, bis jetzt passagenweise von mir gelesen, aber noch nicht komplett von A bis Z. Wie sieht es mit den Katzen im „Ulysses“ aus und was steckt sonst noch alles drin? Gesagt, getan und ran ans Buch: 

Der „Ulysses“ von James Joyce ist der Schlüssel zur Moderne, der heute noch passt. Der mittlerweile vor einem Jahrhundert erschienene Romankoloss gehört mit Recht zu den meisterwähnten und -gelobten Werken, möglicherweise aber auch zu den ungelesensten. Die Arten, ihn zu rezipieren, sind so vielfältig wie die stilistische Variation, die er bietet: Im Regal betrachten, auf den Dachboden auslagern, mit der Lektüre beginnen und nach Jahren oder Jahrzehnten noch einmal beginnen oder an der Stelle des Ausstiegs wieder einsteigen (in diesem Fall ist die Haltestelle des Ausstiegs interessant), sich einzelne Teile aussuchen, nicht am Beginn beginnen, mit einer Lesemontage einen individuellen Bloomsday gestalten. Wie „Sweets of Sin“, das kleine Buch im Buch, das Leopold Bloom in einer Buchhandlung erwirbt und im „Ulysses“ immer wieder mal hervorgezogen und gleich wieder weggesteckt wird:

“He read where his finger opened.″2

Dies liegt an der einzigen, aber auch wirklich einzigen Schwierigkeit des Romans: seinem Umfang. Auch mir ging es sich nie aus, mich mit dem großen Ganzen en bloc zu beschäftigen und es gehört zu den Lichtblicken der Coronakrise, dass sie das eröffnet, was der Roman braucht, nämlich Zeitfenster und Ruhezonen, Sicherheitsabstände zu den Mühlen des Alltags. Wir lebten zuvor in einer Zeit, die es nicht zuließ, sich einem Werk wie „Ulysses“ zu widmen. Außer man studierte Anglistik und trug zur tonnenweisen Sekundärliteratur bei. Und es lohnt sich wirklich, den gigantischen Speicherblock in einem Stück zu durchschreiten – am Ende fühlt man sich, als wäre man durch eine Wand gegangen. 

Dabei hätte der Roman eigentlich ruhig auch in mehreren Bänden erscheinen können, vielleicht sogar in 12 bis 18 schmalen Bändchen, analog zu den 12 bis 18 Stunden des Tages von Leopold Paula Bloom, die er hauptsächlich schildert und den 12 Schiffen der Flotte des Odysseus in der „Ilias“ von Homer. Oder zumindest als dreibändiger Dreimaster mit jeweils einem Teil für die Hauptfiguren Stephen Dedalus, Leopold Bloom und Molly Bloom. Im Schlusssatz des zweiten Teils, Stephen Proteus Wassergott, taucht er auf:  

″He turned his face over a shoulder, rere regardant. Moving through the air high spars of a threemaster, her sails brailed up on the crosstrees, homing, upstream, silently moving, a silent ship.″3

Und im Buch sind die Masten wenigstens mit römischen Kapitelziffern gesetzt. Die erratische Einbändigkeit ist indes auch ein grandioses Stilmittel. Der Roman wirkt so wie Tagebuch, National- und Heldenepos, Bibel, philosophisches Grundlagenwerk, irisches Geschichtsbuch ab urbe condita, Psychogramm, Ratgeber, Hausbuch, Gesprächs- und Geräuschprotokoll, Songbook, Straßenkarte und Dubliner Kneipenführer in einem und zugleich wie die überaus witzige Konterkarierung von all dem. Das Lachen ist ein treuer Begleiter der Lektüre. Er ist eigentlich nicht nur der Schlüssel zur Moderne, er ist auch das Tor. Und erscheint damit auch als Persiflage auf die Form „Roman“ an sich, durch seine Neuerfindung als gigantische Dada-Collage und Montage, mit schnellen Schnitten und Bewusstseinsströmen, die mitreißen und zugleich in extremis jeden Fussel protokollarisch festhalten und ins poetische Rampenlicht stellen. Die stilistische Variation ist immens und bezieht sich nicht nur auf die der Odyssee von Ilias nachempfundenen Teile, sondern auch auf einzelne Absätze und Passagen, von einem Innovationsgeist getragen, der einfach nur beeindruckend ist und das Werk zu einem zeitlosen macht. Der „Ulysses“ ist sehr heutig, die Wirkung auf Literatur und Film war und ist immens. Es ist das Buch, das Standards und Paradigmen setzte. Das Buch, aus dem, salopp gesagt, nach wie vor alle klauen. Oder freundlicher gesagt: sich davon inspirieren lassen, wogegen auch nichts einzuwenden ist. Die möglichen Schreibimpulse für literarische Schreibworkshops purzeln nur so heraus, ein Fundus ohne Ende. Ein Universum. 

Ungefähr sieben Jahre schrieb Joyce an seinem Opus Magnum, mit einer ersten Publikationsmöglichkeit in Aussicht zum Ende hin beschleunigt und mit vielen Überarbeitungen.4 Kopfkino: Joyce packt am Schluss hastig seine Manuskriptseiten in einen Koffer, vielleicht fallen einige vom Tisch oder ein Windstoß lässt sie durch das Schreibzimmer flattern, die hastig eingesammelten Blätter werden noch in die Seitenfächer gestopft. Mit Sylvia Beach fand sich eine moderne, aufgeschlossene Verlegerin in Paris, die das Buch zu Joyce‘ vierzigstem Geburtstag punktgenau am 2.2.22 veröffentlichte. Dass offenbar niemand von den Setzern Englisch konnte, ließ in der Erstausgabe noch einige ungewollte, aber auch spannende Stilblüten treiben. Vielleicht sind es auch sieben Tage, die in diesen 16. Juni 1904, von dem das Buch handelt, gepackt sind, also auf jeden Fall mehr als einer, nämlich auch die von den Figuren um Leopold Bloom erlebten Tageszeiten dieses einen Junitages. Mein lesendes Miterleben dauerte auch ca. sieben Tage, wobei ich dafür Hans Wollschlägers deutsche Übertragung  benutzte 5, die seit Jahrzehnten bei mir Regal steht, immer wieder in die Hand genommen, von den Hamsterrädern des Arbeitslebens aber gleich auch wieder fortgerissen. Nun aber war es so weit: Urlaub 2020 – eine Woche Irland in einem Buch. Wobei bei der Wollschläger-Übersetzung zu beachten ist, dass man neben Joyce auch den Autor Wollschläger liest, oft sehr witzig und findig, bisweilen aber zu weit aus dem Fenster gelehnt und vom Ausgangstext entfernt. Daher lohnt es sich auf jeden Fall, zumindest passagenweise und letztlich den gesamten Text im englischen Original zu lesen. Im berühmten Zitat:

″— That is God.

Hooray ! Ay ! Whrrwhee !

 What? Mr Deasy asked.

 A shout in the street, Stephen answered, shrugging his shoulders.″6

„shout“ mit „Gebrüll“ zu übersetzen, greift zu kurz und lässt es verblassen. Fast hätte ich es überlesen. Schade, dass von der Überarbeitung der Übersetzung, die in zehnjähriger akribischer Forschungsarbeit erstellt wurde, lediglich das Vorwort öffentlich zugänglich sein darf. Das immerhin ist auch sehr informativ und sehr lesenswert.7  Von eminenter Bedeutung ist im Roman auch die Musik. Es empfiehlt sich, die zitierten, manchmal auch mit Musiknoten versehenen Stücke auch anzuhören. Der Lesesoundtrack kann zusätzlich noch individuell und durchaus mit heutiger Musik gestaltet werden. Keinesfalls fehlen sollte aber Mozarts „Don Giovanni“, im Roman oft zitiert, angesungen oder gepfiffen.

  1. James Joyce, Wolf Erlbruch: Die Katzen von Kopenhagen. Deutsch von Harry Rowohlt. München: Carl Hanser Verlag, 2013.
  2. Alle Originalzitate aus: James Joyce: Ulysses. Paris: Shakespeare and Company, 1922. Wikisource https://en.wikisource.org/wiki/Ulysses_(1922)/Chapter_10
  3. James Joyce, Ulysses, Chapter 3 https://en.wikisource.org/wiki/Ulysses_(1922)/Chapter_3.
  4. Vgl. Eric Bulson: The Cambridge Introduction to James Joyce. Cambridge / New York …: Cambridge University Press 2006, S. 13 f.
  5. James Joyce: Ulysses. Übertragung von Hans Wollschläger. Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1100, Neue Folge 100, 6. Auflage der Ausgabe 1993, Dünndruck im Pappschuber.
  6. Joyce, Ulysses, Chapter 2 https://en.wikisource.org/wiki/Ulysses_(1922)/Chapter_2
  7. Im Logbuch Suhrkamp: https://www.logbuch-suhrkamp.de/wp-content/uploads/2018/03/harald_beck-ulysses_revision-vorwort-copyright-suhrkamp_verlag.pdf
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