Über den Verwicklungsroman von Ilse Kilic und Fritz Widhalm
„Wie habt ihr euch kennen gelernt?“ – diese Frage wird nicht selten Paaren gestellt und „Was machtest du, bevor wir uns gekannt haben?“ – diese Frage stellen sich Paare oft selbst. Diesen Fragen des Kennenlernprozesses geht der gemeinsame Verwicklungsroman von Ilse Kilic und Fritz Widhalm nach, der seit 1999 in der edition ch biennal erscheint. Ilse Kilic und Fritz Widhalm betrachten sich im Spiegel der Erinnerung, und als Spiegelbilder blicken ihnen die Alter-Egos Jana Brenessel und I.G.Naz entgegen, die als Figuren im Verwicklungsroman die Biografien von Ilse Kilic und Fritz Widhalm festhalten und umgekehrt, wodurch eine gemeinsame Autobiografie entsteht. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Zeit der 70er- und frühen 80er-Jahre – die Zeit, in der sie sich noch nicht kannten, ihre Bekanntenkreise sich aber langsam zu überschneiden begannen und sie sich begegneten, immer öfter begegneten und schließlich zum Paar wurden, aber auch die Zeit wichtiger künstlerischer Entdeckungsreisen von Dada bis Punk und der daraus resultierenden Erkenntnis- und Entscheidungsprozesse, die dann zur Gründung des „Fröhlichen Wohnzimmers“ führten. Auch den Kontexten wird große Beachtung geschenkt: So werden nicht nur die Tätigkeiten, der Alltag und das Umfeld des „Fröhlichen Wohnzimmers“, also Personen und Orte aus der jeweiligen Gegenwart eines Bandes des Verwicklungsromans beschrieben, sondern auch Ausflüge in die Kindheit und Jugend unternommen, so weit die Erinnerungen reichen. Dadurch gerät der Verwicklungsroman auch zu einer Dokumentation alternativkultureller Zeit- und Alltagsgeschichte ersten Ranges. Wie auf einem Möbiusband ziehen auf der vermeintlich einen Seite Ilse und Fritz und auf der vermeintlich anderen die metonymischen Figuren Jana und Naz los und hinterlassen dabei dichte Textspuren, geschöpft aus zwei erfahrungs- und kenntnisreichen Allround-KünstlerInnenleben. Und aus Sicht der Leserin, des Lesers ist es völlig unerheblich, mit welchem Band, ja an welcher Stelle des Verwicklungsromans mit der Lektüre begonnen wird: Wie sich die Wege halt so kreuzen. Wie es halt beim Kennenlernen so ist.
Günter Vallaster, 22.11.11
Arrangement und Foto: Günter Vallaster
Zwischen „Erinnerung und Erfindung“ [1] – die gemeinsame Autobiografie der Wohnzimmers
von Judith Gröller
In den derzeit vorliegenden siebenbändigen Verwicklungsromanen [2] schreiben Ilse Kilic und Fritz Widhalm ihre gemeinsame Autobiografie. […] wir [schreiben] unser Leben und das Leben des anderen, vor und zurück, auf und ab…überall hin eben. Ich erinnere mich an die Erinnerungen von Ilse, zumindest an diesen Teil ihrer Erinnerungen […]. [3] Es geht darum, dass das alles Tun und Schreiben in den Verwicklungsromanen Platz findet, so Fritz Widhalm weiter. Also die Tendenz ist, dass der Körper Sprache wird. Wenn zwei Personen zusammen ihre Biografie schreiben, dann fungiert immer eine als Kontrollgruppe. Ilse Kilic: „So gesehen wird ein Stück Erfindung, ein Stück Mystifizierung der eigenen Biografie sichtbar: der andere ist – um im Jargon des Experiments zu bleiben – gewissermaßen Kontrollgruppe.“ [4] Für Ilse Kilic bedeutet der Verwicklungsroman auch die Grenzen einer Person zu thematisieren. „während jana sich erinnert, kommt ihr die groteske idee, sich und den naz in einer person zu vereinigen.“ [5] Es geht hier also auch um Auflösungstendenzen. Beide schreiben unter Pseudonymen Kilic wird zur Jana, Widhalm zu Naz. Auch Fritz Widhalm sagt im Interview, dass er meistens keine [Identität] hat. [6] So wie es keine abgrenzbaren Identitäten mehr gibt, gibt es auch keine Kontinuitäten in einer Lebensgeschichte: „janas geschichte scheint nicht kontinuierlich von kleinjana zu großjana zu verlaufen, es gibt bock- und rösselsprünge, umwege und wegabschneider […]. [7] Die Verwicklungsromane sind immer ein Spiel mit Identitäten, es wird unterschieden zwischen jana, naz und textjana und textnaz. Teilweise kommt es auch zu Verwechslungen. [8] Kilic und Widhalm kritisieren das Modell der Zweigeschlechtlichkeit, indem sie etwa ein „autonomes schreibwesen“ entwickeln, das sie janaz genannt haben. Dies entspricht auch den Ansätzen der plural-queeren Entwürfe, die Geschlecht als eine sich verändernde und veränderbare Variable denken. Das bedeutet, dass Menschen sich selbst definieren können, so wenn und wann sie das wollen. Ähnlich angelegt im janaz-Konzept von Kilic und Widhalm.
[1] Schriftliches Interview beantwortet von Ilse Kilic, 16. November 2010
[2] In der vorliegenden Arbeit werden ausschließlich die ersten beiden Bände, „Dieses Ufer ist rascher als ein Fluss!“ und „Neue Nachrichten vom gemeinsamen Herd“ des Verwicklungsromans untersucht, da sonst der Rahmen der Arbeit gesprengt würde.
[3] Schriftliches Interview beantwortet von Fritz Widhalm, 18. November 2010
[4] Interview mit Kilic. S. 22.
[5] Ilse Kilic und Fritz Widhalm: Dieses Ufer ist rascher als ein Fluss. Des Verwicklungsromans erster Teil. Wien: Edition ch. 1999. S. 43. Ilse Kilic und Fritz Widhalm verwenden in ihren Texten ausschließlich die Kleinschreibung, daher wird hier auch so danach zitiert.
[6] Interview mit Widhalm. S. 30.
[7] Vgl. Kilic und Widhalm: Neue Nachrichten. S. 23.
[8] Vgl. ebd. S. 26.
Zurück zum Verwicklungsroman